Leseproben

Zu meinem neuen Kurzprosa – Band “Muskelkater vom Leben” gibt auf dieser Seite ein paar Textpröbchen. Die Sammlung von Kurzgeschichten im weitesten Sinne beschäftigt sich auf satirische wie ernste Weise mit Konflikten, Problemen und Befindlichkeiten von Menschen, die schon einige Jahre und eine ganze Menge Erfahrungen auf dem Buckel haben. Die Figuren und Situationen sind ganz nah dran am Erlebten, ob tragisch, stressig oder gelassen, aber meistens alltäglich.

Zuhörer auf Lesungen mit diesen Texten sagten mir.

  • “Du hast mir aus der Seele gesprochen.”
  • “Eine traurige Geschichte, so schön ausgedrückt. Das tröstet.”
  • “Das kenne ich. Genauso habe ich mich gefühlt. Aber mir fehlten die Worte.”
  • “Ehrliche Geschichte, ehrliche Gefühle, ganz nah dran am Leben. Großartig!”

 Verständlicherweise sind es nicht die kompletten Texte, aber um sich einen ersten Eindruck zu verschaffen, werden diese Fragmente schon reichen.

Viel Spaß beim Lesen!

Hier gibt es jetzt auch einen Live-Mitschnitt des Textes “Smartphonomanie”:

Winfried Thamm

 

Smartphonomanie

Ich gehe gar nicht mehr raus. Bleib nur noch drin. Hier zuhause in meinen eigenen vier Wänden. My home is my castle. Ist zwar schade, bei diesem schönen Wetter: laues Lüftchen, das erste Grün, die Sonne scheint. „Der Frühling lässt sein blaues Band…“  Hab ja `n Balkon.

Warum ich nicht mehr vor die Tür gehe? Ach, ich kann es nicht mehr ertragen. Was? Diese Dinger, jeder hat eins. Was für Dinger? Smartphones, I-Phones, Mobiltelefone. Handys eben. Alle gucken drauf, kaum einer telefoniert damit. Und wenn doch, dann laut. Ganz Raffinierte haben das Gerät versteckt. Ihnen schauen nur noch zwei Kabel aus den Ohren, während sie lauthals palavernd und wild gestikulierend durch die Gegend laufen. Früher hätte man sie eingefangen und in die Klapse gesperrt, aber heute…

Neulich im Supermarkt war vor mir an der Kasse ein Mann, den seine Frau anscheinend zum ersten Mal einkaufen geschickt hatte. Der wusste gar nichts, fragte seine Frau alles, per Handy, versteht sich. Der allgemein einkaufenden Öffentlichkeit gab er seine vollkommene Unkenntnis über Nahrungsmittel, Preise, Kochkünste und das Leben allgemein preis. Der hatte aber auch von nichts eine Ahnung und schämte sich nicht einmal. Das ist auch so eine Zeiterscheinung: Man schämt sich nicht mehr.

Wenn früher im Restaurant einmal versehentlich ein Handy klingelte, fiel sofort eisiges Schweigen vom Himmel, die Sonne verdunkelte sich und alle starrten den Täter böse an. Ihm stieg pflichtbewusst die Schamesröte ins Gesicht, er fummelte sein Handy heraus und schaltete es ab.

Heute bestellen sich immer mehr Gäste sogenannte One-hand-meals, die sie nur mit der Gabel oder dem Löffel essen können, damit sie eine Hand frei haben, fürs Handy. Haben Sie das mal beobachtet: Die modernen Paare sitzen sich gegenüber, aber schauen sich nicht in die Augen, reden nicht miteinander. Liebevoll blicken sie auf ihren leuchtenden Liebling, wischen ihm durchs Bildschirmgesicht, zaubern ihm neue Bilder auf die Oberfläche, putzen ihm das virtuelle Näschen, tippen mit flinken Fingern auf ihm herum, als wollten sie ihn kitzeln, kraulen liebkosen oder zum Lachen bringen. Manchmal zeigen sie ihrem Gegenüber stolz das Handygesicht, als wollten sie sagen: „Schau mal, was mein Kleiner alles kann!“ oder „Ist der nicht süß?!“ Das Gegenüber schaut auf und lächelt mild, kurz und uninteressiert. Es will seinen eigenen Handy-Schatz nicht zu lange allein lassen…. (Es geht noch weiter!)

Eine Übung in Geduld und Demut

Es ist so schön dunkel. Nur die Lichter der Stadt bemühen sich nach oben durch mein Fenster im 5. Stock und werfen von weit unten graues Licht an die Decke. Der Nachbar schnarcht leise. Es liegt nicht an ihm, dass ich nicht schlafen kann. Wer den ganzen Tag im Bett liegt, schläft nachts schlecht. Oder gar nicht. Aber es ist nicht schlimm. Mir tut nichts weh, wenn ich so liege. Darüber bin ich froh. Das ist ein Privileg in diesem Haus.

Ihm hat es wehgetan, heute, von halb fünf bis halb acht. Herbert heißt er, ist über siebzig. Seine Nichte war bei ihm, gottseidank. Irgendwas auf dem Klo passiert, Blut im Urin. Schmerzen. Der Praktikant kam, sah entsetzt das Rot im Beutel und rief die Schwester. Herbert jammerte, tapfer, nicht laut. Schwester Britta kam nach zwanzig Minuten, da könne sie nichts machen, und rief den Bereitschaftsarzt. Der kam nicht, war auf einer anderen Station. Ist schließlich Wochenende, da heißt es: Sparflamme, wollen doch keine Ressourcen verschwenden. Herbert jammerte weiter. Die Nichte hielt die Hand. Fragte nach Schmerzmitteln. Ohne Arzt keine Veränderung der Medikation. Das ist Vorschrift, so die Schwester, übrigens habe sie auch noch andere Patienten. Herbert klammerte sich an die Hand seiner Nichte. – Schätzken, dass du da bist. Wenn ich dich nicht hätte. Das tut so weh – . Nach einer Stunde tauchte ein junger Mann in Weiß auf, fragte, was uns denn fehle, und verschwand gleich wieder, den Urologen holen. – Ein Schmerzmittel, Herr Doktor? – Zu spät, die Tür war schon zu. Herbert jammerte lauter, aber immer noch tapfer. Eine Übung in Geduld und Demut. Um kurz vor halb acht kam der Urologe, zog den Katheder. Herbert atmete auf.

Ein Fenster ist auf Kipp, leise rauscht die Großstadt. In den letzten Tagen hatte ich eine wunderschöne Aussicht über das Viertel, dahinter die bunten Wälder. Goldener Oktober. Wäre gerne spazieren gegangen. Bleibe so liegen, genau so, auf dem Rücken, die Hände auf den Bauch abgelegt, atme ruhig. Hat was von Meditation. Eine Übung in Geduld und Demut.

Vorher hab ich auf der Sechs gelegen. Als Vierter auf einem Dreibettzimmer. Böse Blicke der anderen Drei, als sie mich hineinrollten. Man duzte sich gleich. Die Distanzlosigkeit der Leidensgenossen.

Josef war Rentner und verloren wie ein Baby, ohne seine Frau. Die lag eine Etage tiefer und hatte was Schlimmes. Er ging jeden Tag zu ihr hinunter. Dauerte höchstens eine halbe Stunde, der Besuch. War immer deutlich erleichtert, wenn er wieder da war. Er ist nur hier wegen seiner Zuckerwerte. Müssen neu eingestellt werden. Und weil er alleine zu Hause nicht klarkommt. Josef ist alt, um die Achtzig. Aber fast kerngesund und schimpfte wie ein Rohrspatz. Ließ mich nicht in Ruhe, fragte immer, ob er denn recht habe, rotzte und rülpste und spuckte und schaute mich an. Unentwegt. Ein Mann ohne Manieren. Saß ich im Bett und las, schaute Josef mich an. Schaute ich auf, grinste er und sagte etwas, was ich unbedingt bestätigen musste, sonst wiederholte er es. Schaute ich nicht auf, fragte er, was ich da lese, ob das spannend sei, er lese nie, manchmal mache er Kreuzworträtsel, aber hier nicht, habe ja keine, seine Frau könne ja keine holen. Der Vorwurf war unüberhörbar. Ein alter Mann mit dem Wesen eines dreisten, verwöhnten und verzogenen Kindes. Arme Frau. Mit ihm, eine Übung in Geduld und Demut.

Gut, dass ich da weg bin. Ich liege ganz still, höre die Stadt und sehe ihren Schein an der Decke. Bruno atmet schwer, japst, setzt aus, ein lauter Schnarcher und wieder Ruhe. Er liegt wie ein Berg hinter Herbert. Die beiden sind wie eine Landschaft: Herbert ist der Fluss, weil seine Sauerstoffmaske so gluckernde Geräusche macht und Bruno ist der Berg dahinter. Was bin ich in dieser Landschaft, der gefällte Baum?

Bruno ist ein gutmütiger Berg, zweihundert Kilo bestimmt, wenn nicht mehr. Er kriegt dauernd Besuch. Immer, durchgehend, außer nachts, ist jemand da, manchmal auch viele. Sie reden immer irgendwas völlig Belangloses und lächeln sich an. Sie lächeln sich immer an und reden immer. Ein ruhiges Krankenzimmer ist etwas Anderes. Für mich: eine Übung in Geduld und Demut. Wenn sie endlich weg sind, will Herbert immer die ´aktuelle Stunde´ gucken, dann die ´Tagesschau´. Dabei schläft er meist schon ein. Schnell schalte ich den Fernseher wieder aus. Der Berg will nichts sehen. Er will liegen….(Es geht noch weiter!)

Dicke Männer

Neulich, gar nicht lange er, war ich mit meiner Kollegin Lara in der Kantine. Und als ich gerade mein Champignon-Rahm-Schnitzel mit Schweizer Röstis und Rosenkohl zu unserem Stammtisch trug, der Duft der Pilzsahnesauce kitzelte meine Nasenschleimhäute, stieß ich einen Satz der Verzweiflung aus: „Ach wenn sich das nicht immer so furchtbar auf der Waage rächen würde. Ich habe seit letzten Monat schon wieder zwei Kilo drauf.“

Da sagt doch Lara, die zwanzig Jahre jüngere, schlanke und grandios aussehende Lara mit süffisantem Lächeln: „Ach bei euch Männern ist das mit der Figur doch eh nicht so wichtig. Mach dir keinen Kopf und genieße dein Schnitzel.“

Noch während wir auf unseren Tisch zusteuerten begann ich lauthals mein Lamento: „Meins du, uns Männern macht es Spaß, im Schlafzimmerspiegel unsere muskelfreien Streichholzbeinchen zu betrachten, wie sie sich unter dem Gewicht der Wohlstandswampen und Kartoffelfriedhöfe, wie es so lustig heißt, zu O-Beinen verbiegen und sich die schlappen Gelenke stauchen?“

„Werner, hör auf, das ist nicht appetitlich. Sei lieb, iss und schweig!“

„Oder noch schlimmer“, fuhr ich noch erregter und lauter fort, „die wabbelbeinigen Buddha-Typen, die verschämt und den Tränen nahe ihre Doppel-Dreifach-Kinn-Kaskaden anschauen, die sich in diversen Brust- und Bauchwellen weiter anschwellend nach unten fortsetzen und sich schließlich an der Unterbauch-Speckschürze brechen, die gelassen schaukelnd das Geschlecht bedeckt. Meinst du eigentlich das macht den armen Männern Spaß?“

„Werner, aus jetzt! Oder ich kotz´ gleich!“, intervenierte Lara. Auch andere Kollegen von den Nachbartischen gaben laut: „Werner, halt den Mund, sonst holen wir die Security!“ – „Unmöglich, sowas!“ – „Jetzt hab ich keine Hunger mehr und du bist schuld!“, kam es noch von irgendeinem Hungerhaken.

Etwas leiser machte ich weiter: „Also meinst du, diese Männer seien glücklich? All die übergewichtigen Männer sind verzweifelt, mal abgesehen von den hirnkranken Ignoranten, die Macht mit Würde und Attraktivität mit Gelds verwechseln.“

„Ja, das glaube ich dir. Aber was willst du eigentlich? Erstens siehst du nicht so aus“ – „Aber bald!“ – „Ach was, fishing for compliments!“ – Doch!“ – „Nein! Und zweitens: Du, in deinem Alter könntest damit deutlich gelassener umgehen. Hätt´ ich dir zugetraut, wirklich! Oder bist du wieder auf Brautschau?“, lachte sie ihr glockengleiches Lachen.

Auf der Champignon-Sahne-Sauce hatte sich eine dunkelgelbe Haut gebildet….(Es geht noch weiter!)